Im Wechsel (der Gezeiten)
Es herrscht Ebbe! Nach einer Welle der Begeisterung, des Aufschwungs und vielen wieder zurückeroberten Aktivitäten, stagniert es auf einmal. Von himmelhochjauchzend und einem sich annähernd wieder nach "meinem" Leben anfühlendem Alltag, lande ich knallhart wieder auf dem Boden (oder eher auf der Couch).
Es ist eine unendlich erscheinende Müdigkeit, die mich in ihren Bann zieht und auch mit Schlaf und Ruhephasen nur mittelmäßig in den Griff zu kriegen ist. Mir fehlt die Lust und Energie Aktivitäten nachzugehen und es ist meinem starken Willen, Ehrgeiz und Verstand zu verdanken, dass ich mich immer wieder aufraffe und aktiv werde. Es kostet also momentan mehr Kraft als noch vor einigen Wochen mich zu motivieren und vor allem an meinem körperlichen und seelischen Heilungsprozess dranzubleiben.
Zurzeit findet ein Wechsel auf mehreren Ebenen meines Seins statt. Körperlich hat mein Körper auf Menopause umgestellt. Ich sitze mit meinen nicht mal 30 Jahren vor der Frauenärztin und schlucke kurz bei dieser Information. "Es handelt sich um einen meist vorübergehenden Zustand, den wir weiterhin beobachten werden." Mein natürliches Verständnis über das Frau-Sein muss sich somit auch an meine neue Situation anpassen. Ich bin damit auf keinen Fall allein, denn meinen Recherchen zufolge sind verschiedenste Störungen der Sexualfunktion sowohl bei Männern als auch bei Frauen eine der mitunter häufigsten Langzeitfolgen nach einer Krebserkrankung.
Ein Wechsel findet also statt und dieser zeigt sich auch an meinem emotionalen Haushalt. Ich habe sehr feinfühlige Antennen entwickelt und fühle mich häufig bereits durch einfachste Dinge wie lange Gespräche, Menschenaufläufe oder Post von der Krankenkassa, vollkommen aus der Bahn geworfen und reagiere mit einer überschießenden Produktion an Stresshormonen. Während ich mich in der neuen Normalität verliere und manchmal dazu neige zu vergessen was mir widerfahren ist und was in meinem Inneren noch immer nicht abgeschlossen ist, höre ich immer wieder eine leise Stimme in mir drin. Sie ermahnt mich zur Vorsicht, aber auch der Wertschätzung meines Lebens, das ich keineswegs selbstverständlich sehen darf.
"Es ist noch nicht vorbei", höre ich diese Stimme, wenn ich von Menschen wie mir lese, die den Kampf auch Jahre nach ihrer Transplantation verloren haben. Nachrichten über ihren Tod treffen mich jedes Mal aufs Neue und fühlen sich an wie meine Diagnosestellung vor Jahren. Es ist wie ein zweiter Diagnoseschock, der erneut die Phasen der Krankheitsbewältigung wie Ablehnung, Verweigerung und fehlende Akzeptanz in Gang setzt. Ich bin im Wechsel zwischen Angst und Akzeptanz, Verzweiflung und Lebensfreude, Zuversicht und Ungeduld, dem Hier und Jetzt, dem Vergangenen und den Zukunftsplänen, die ich wieder für mein Leben schmiede.
Ich stehe vor der Weite eines Ozeans, beobachte die Gezeiten und warte bis nach der Ebbe die nächste Welle kommt, die mich mitreißt und wieder neue Veränderungen und Herausforderungen mit sich bringt.
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